Stimmbeteiligung erhöhen ohne eVoting


Eines der Argumente für eVoting ist die Erhöhung der Stimmbeteiligung. Stimmbeteiligung—nur für sich alleine gesehen—ist keine ausreichende Metrik für die Beurteilung der Funktionsfähigkeit einer Demokratie, trotzdem spielt sie eine wichtige Rolle. Die «Vote électronique», wie eVoting in der Schweiz offiziell heisst, bringt aber auch neue Risiken, wie die Gefahr von Intransparenz und gezielter Abstimmungsmanipulation sowie verschiebt die Verantwortung für die Überprüfung der Korrektheit auf den Einzelnen.

Dies ist eine Zusammenfassung des gleichnamigen DNIP-Artikels. Mehr Hintergrund gibt es dort (oder im Vortrag am Mittwoch in Stein am Rhein).

eVoting-Stimmbeteiligung?

eVoting ist ja seit Herbst wieder im Trend. In den letzten Jahren wurde viel dazu geschrieben; das immer mal wieder auftauchende Argument «Stimmbeteiligung erhöhen» wurde meines Wissens nach bisher aber noch nie vertieft behandelt.

Deshalb ist es der Star des aktuellen DNIP-Artikels. Während der Kanton Zürich vor rund 15 Jahren keine Veränderung sah, gibt es ein anderes, bewährtes Werkzeug. Schauen wir uns das mal an.

Aber er hat auch—und das ist der Auslöser des heutigen Artikels—regelmässig die höchste Stimmbeteiligung der Schweiz: Seit vielen Jahrzehnten ist die durchschnittliche Stimmbeteiligung jeden Jahres um rund 15–35 Prozentpunkte höher als der schweizerische Durchschnitt und schlägt auch den jeweils Zweitplatzierten klar mit rund 5–25 Punkten Vorsprung.

Was macht diese Linie da oben?

Die ganze Schweiz frönt der Stimmabstinenz. Die ganze Schweiz? Nein, ein kleiner aufmüpfiger, dreigeteilter Kanton kann es nicht lassen und ist im Jahresdurchschnitt immer etliche Prozent vor dem Feld der Mitbewerber in dieser Kategorie.

Was macht Schaffhausen so speziell? Es ist der letzte Kanton mit einer durchgesetzten Stimmpflicht (6 Franken, also ein Latte Macchiato, pro versäumtem Termin, bequem in einer handlichen Jahresrechnung zu bezahlen).

Nachforschungen

Doch das allein ist ja noch kein Beweis. Könnte auch sein, dass seine grösstenteils rechtsrheinische Lage (und die deutschen Enklave uvam.) vielleicht der Grund diese hohe Stimmbeteiligung ist?

Bis 1971/72 war auch der Aargau in der Spitzengruppe, seither im unteren Mittelfeld. Was war geschehen? Aargau schaffte 1971 die Stimmpflicht ab. Gleichzeitig wurde aber auch das Frauenstimmrecht eingeführt. Was war jetzt der Grund für die Halbierung?

Entwicklung der Stimmbeteiligungen in den Kantonen, mit Schaffhausen und Aargau separat vom Rest aufgezeichnet. (Mehr Informationen zu Datenquelle und Methodik im DNIP-Artikel.)

Sind die Frauen schuld?

Zum Glück hat der Kanton Aargau für die Grossratswahlen 1973-2012 eine Geschlechterstatistik (etwas, was sonst schwer zu bekommen ist).Diese zeigen, dass Frauen nur leicht weniger häufig wählen. Dieser Unterschied erklärt nur 5 Prozentpunkte des Einbruchs von 80% Stimmbeteiligung davor zu 40% danach. Die restlichen 35 Prozentpunkte müssen also grösstenteils vom Ende der Stimmpflicht herrühren.

Wahlbeteiligung bei Grossratswahlen, erzeugt aus den Statistiken zur Nichtwählerquote der Staatskanzlei Aargau. (Mehr Informationen zu Datenquelle und Methodik im DNIP-Artikel.)

Stimmpflicht?

Die Stimmpflicht im Kanton Schaffhausen ist dabei gar nicht so drastisch:

  1. Busse von 6 Franken (mit bequemer Jahresrechnung mit Einzahlungsschein)
  2. Entschuldigung ist trivial (beliebteste Methode: Einfach bis 3 Tage nach(!) dem Abstimmungstermin den Stimmrechtsausweis zurück an die Gemeinde)

Und natürlich gibt es einen detaillierten Anhang mit Erläuterungen zu den Daten, ihrer Aussagekraft und weiteren Hintergründen.

Weitere Einflüsse

Stärkere Einflüsse als die Stimmbeteiligung dürften die Auswirkungen von

Die Adressierung dieser Themen ist meiner Ansicht nach deutlich wichtiger als die Erhöhung der Stimmbeteiligung oder die Vereinfachung des Abstimmungsvorgangs. Diese Punkte hier werden, wenn wir sie nicht rasch und konkret angehen, unsere Demokratie spätestens mittelfristig gefährden.

Aber im Gegensatz zu eVoting gibt es hier keine kommerziellen Interessen, im Gegenteil.

Risiken von eVoting

Wer sich noch mehr zum Thema eVoting informieren will, dem sei auch das Dossier E-Voting der Digitalen Gesellschaft empfohlen. Eine sehr gute englische Zusammenfassung der Entwicklung und der Kritikpunkte finden sich im «Voting Village 23 Panel» (Video oder nachbearbeitete, strukturierte Transkription), die insbesondere auch darauf eingeht, weshalb eBanking und eVoting ganz unterschiedliche Eigenschaften und Risiken haben.

Fazit

Was sollte meiner Meinung nach geschehen?

Abstimmungsmodus

  • Ende der eVoting-Experimente
  • Wahlschablonen für Blinde, Sehbehinderte bzw. Menschen mit motorischen Einschränkungen
  • Briefwahl und/oder Botschaftswahl für Auslandschweizer:innen; die meisten leben in Ländern mit funktionierender Post (ich war selbst mehrere Jahre im Ausland und finde)

Stimmbeteiligung und -kompetenz

  • Einfache, klar nachvollziehbare Vorlagen
  • Sachliche, aber nicht langweilige Informationen
  • Trennung zwischen Faktenlage und Schlussfolgerung/Argumentation
  • Verbesserung der Medienkompetenz (Erkennen von Desinformation)
  • Unterstützung für politische Bildung

Mir ist klar, dass nicht alles einfach umzusetzen ist. Aber diese Punkte haben wir unter Kontrolle und können sie bewusst ändern. Und sie hätten konkrete Vorteile für unsere Gesellschaft und kommen mit deutlich weniger Risiken als das eVoting.


Weiterführende Materialien

  • Patrick Seemann: eVoting: No risk, have fun?, DNIP, 2023-09-04.
    Die Risikobeurteilung der Bundeskanzlei definiert viele Risiken einfach als eliminiert, als wirklich etwas am Risiko selbst zu ändern.
  • Patrick Seemann: eVoting: Der Stimmbürger bleibt die Schwachstelle, DNIP, 2023-10-17.
    Die Verantwortung für eVoting-Stimmabgabe wird auf die Stimmbürger:Innen abgewälzt.
  • Marcel Waldvogel: DEFCON Voting Village 23 Panel, 2024-02-12.
    Transkription der Vorträge des DEFCON Voting Village 23 Panels, welche die Probleme von eVoting erläutern — und wieso eShopping oder eBanking und eVoting nicht in denselben Topf geworfen werden dürfen.
  • E-Voting, Digitale Gesellschaft.
    Dossier mit der Entwicklung in der Schweiz und Kritikpunkten.
  • Vote électronique, Bundeskanzlei.
    Dossier mit Überblick über den Stand des eVoting-Versuchs in der Schweiz und den hier fehlenden Pro-Argumenten.

Aktuelles zu IT-Sicherheit

  • «Voting Village»-Transkript
    Letzten August fand an der Hackerkonferenz DEFCON eine Veranstaltung der Election Integrity Foundation statt. Sie fasste mit einem hochkarätigen Podium wesentliche Kritikpunkte rund um eVoting zusammen.
  • «QualityLand» sagt die Gegenwart voraus und erklärt sie
    Ich habe vor Kurzem das Buch «QualityLand» von Marc-Uwe Kling von 2017 in meinem Büchergestell gefunden. Und war erstaunt, wie akkurat es die Gegenwart erklärt. Eine Leseempfehlung.
  • 50 Jahre «unentdeckbare Sicherheitslücke»
    Vor 50 Jahren erfand Ken Thompson die «unentdeckbare Sicherheitslücke». Vor gut 40 Jahren präsentierte er sie als Vortrag unter dem Titel «Reflections on Trusting Trust» anlässlich der Verleihung des Turing-Awards, des «Nobelpreises der Informatik». Hier ein kleiner Überblick, was es damit auf sich hat. Ausführlich im Artikel von Patrick Seemann.
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