Mit «Gremien-Lasagne» zu mehr Flexibilität?


Am 12. März 2023 wird im Kanton Schaffhausen über das ITSH-Gesetz abgestimmt. Das Gesetz ist in Teilen der Albtraum jedes IT-Geschäftsführers. Fehler und ihre Vermeidungsmöglichkeiten.

Ich habe über viele Jahre einen IT-Dienstleister innerhalb der öffentlichen Hand geleitet. Deshalb hat mich ein Journalist vor mehreren Wochen um meine Meinung zum Gesetz gebeten, die ich gerne für ihn zusammenstellte. Nachdem er den Artikel mehrfach verschoben hatte und inzwischen wohl ganz fallengelassen hat, wäre es schade, diese Notizen einfach so wegzuwerfen.

Wichtiges in Kürze (TL;DR)

  • Die Konstruktion ist extrem kompliziert. Mehr Personen sitzen in den Einflussgremien als Mitarbeiter vorhanden sind, um die Arbeit zu machen.
  • Keines der Gremien hat klar definierte Verantwortung, welche es zu übernehmen gilt.
  • Die Geschäftsleitung muss im ersten Jahr rund ein Dutzend Strategiedokumente, Reglemente und sonstige Berichte erstellen und abstimmen.
  • Grössere Beschaffungen sind sehr langwierig und aufwändig.

Ziele des Gesetzes

Mit der Auslagerung in eine unselbständige Anstalt ergäben sich folgende Vorteile (Abstimmungsbüchlein, S. 22)

  • Auslagerung aus der Kernverwaltung
  • Trennung zwischen politischer und betrieblicher Einflussnahme
  • Flexibilität und unternehmerischer Handlungsfreiraum samt entsprechender Eigenverantwortung
  • Besonderes Knowhow
  • Bessere Kundenorientierung
  • Eigene Rechnungsführung, ohne Minderung des Rechtsschutzes und ohne Minderung der staatlichen Garantien

Schauen wir uns diese Punkt für Punkt an:

«Auslagerung aus der Kernverwaltung»

Die für mich möglicherweise erschreckendste Aussage aus dieser Aufzählung aus dem Abstimmungsbüchlein ist, dass scheinbar Regierungsrat und Kantonsrat der Ansicht sind, dass innerhalb der Kernverwaltung nicht flexibel gehandelt werden könne, kein Know-How aufgebaut werden könne oder man sich gar an den Kund:innen orientieren könne.

Das würde implizieren, dass die restliche Verwaltung riesiges Verbesserungspotenzial hätte, dem sich die beiden Räte dringend annehmen sollten.

«Trennung zwischen politischer und betrieblicher Einflussnahme»

Folgende Gremien sind zukünftig involviert, um auf die Organisation mit «59 Mitarbeitenden, wovon 7 Lehrlinge» Einfluss zu nehmen:

  • Kantonsrat (60 Personen)
  • Regierungsrat (5 Personen)
  • Verwaltungskommission (5 Personen)
  • Geschäftsleitung (mindestens 3 Personen)
  • IT-Kommission (1 Regierungsvertretung+1 Kantonsvertretung+“Vertretungen der kantonalen Gemeinden und weiterer wichtiger Kunden“; möglicherweise also 30 Personen)

Insgesamt ist also mit bis zu 100 Personen zu rechnen, die politische Einflussnahme geltend machen werden.

Organigramm aus dem Abstimmungsbüchlein (S. 23)

Insbesondere die Funktion der IT-Kommission ist unklar. Schon ihre Positionierung zuunterst im Organigramm (dort, wo eigentlich die Mitarbeitenden sein sollten) lässt erahnen, dass man sich dessen schon bewusst gewesen sei. Die Formulierungen im Gesetz, dass die IT-Kommission «bestrebt» sei bzw. «anstreben» und «vertreten» soll, gehen in diese Richtung. Niemand hat sich getraut, diese möglicherweise rund 30 Personen einfach als „Kundenfeedback“ zu bezeichnen. (Für die Zusicherung von Krediten braucht es kein eigenes Gremium; auch die Kalkulation der Stundensätze sollte naturgemäss in den „überliegenden“ Gremien überprüft werden.)

Was genau ist der Sinn der Verwaltungskommission? Sie übernimmt Aufgaben, die man auch dem Regierungsrat und seinem Stab oder der Geschäftsführung hätte zuordnen können.

Eine weitere Seltsamkeit des Gesetzes: Verschiedene Mitglieder der Geschäftsführung werden von verschiedenen Gremien eingesetzt: Der Geschäftsführer durch den Regierungsrat, die restlichen Mitglieder durch die Verwaltungskommission.

Das ganze Gesetz lese ich entsprechend als der Wunsch aller im Kanton von Verwaltungs-IT Betroffenen, mitreden zu können; aber niemand will Verantwortung übernehmen. Wenn etwas schief geht, gibt es genügend andere Gremien, denen man die Schuld in die Schuhe schieben kann («Verantwortungsdiffusion»).

Entsprechend wird es schwierig sein, konkrete Verantwortungsübernahme von den Gremien zu fordern. Die Reglemente sind dafür der falsche Ort; es wäre Aufgabe des Gesetzgebers gewesen, dafür die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Die Geschäftsleitung und weitere Schlüsselpersonen sind im ersten Jahr durch die Vorbereitung, die Abstimmung im Gremienweg und die Umsetzung der unzähligen laut Gesetz notwendigen (Strategie-)Dokumente und Reglemente stark absorbiert.

«Flexibilität und […] Eigenverantwortung»

Eigentlich sollte ja die unklare Führungsrolle durch Doppelunterstellung an den Kanton und die Stadt Schaffhausen mit dem neuen Gesetz gelöst werden.

Durch die unklare Verantwortung wird es der Geschäftsführung aber noch schwieriger gemacht, Entscheidungen effizient und zielgerichtet und ohne grosse Wartezeiten zu fällen.

Eigenverantwortung zu übernehmen wird der durch die gewählte Gremienstruktur und fehlende klare Verantwortungen

«Besonderes Knowhow» und «Bessere Kundenorientierung»

Ob eine Organisation Know-How aufbaut oder sich an Bedürfnissen orientiert, hängt nicht daran, wie und wo sie aufgehängt ist.

Das hängt von vielen anderen Faktoren ab, u.a. Wertschätzung, Ressourcen, Führungsstil, Ziele der Leitungsebene, Klarheit der Aufgaben und Verantwortlichkeiten.

«Eigene Rechnungsführung […]»

Für eine grössere Beschaffung mit Ausschreibungspflicht ergibt sich in etwa folgender Zeitplan:

  • Jahr 1: Die Notwendigkeit der Beschaffung wird erkannt, die Anforderungen erfasst und Produkte evaluiert. Dabei wird auch eine Preisschätzung erstellt (z.B. durch Konsultationen von Preislisten oder Anfragen bei potenziellen Lieferanten) und eine Begründung geschrieben.
  • Jahr 2: Diese Preisschätzung sowie die Begründung laufen durch die Gremien. Wenn alles gut geht, stimmt der Kantonsrat (wahrscheinlich nach vorheriger Konsultation der GPK, ein Gremium, das in der Aufzählung übrigens fehlt) dem Budget zu.
  • Jahr 3: Aktualisierung der Anforderungen und Produktspezifikationen an die Entwicklung der vergangenen zwei Jahre. Das Ausschreibungsverfahren wird durchlaufen. Mit Glück wird die bestellten Produkte zum Jahresende geliefert.
  • Jahr 4: Die Produkte werden bereit gemacht (Hardware und Software konfiguriert) und in die Abläufe integriert, so dass sie genutzt werden.

Jeder grössere Beschaffungsprozess ist damit rund 4 Jahre am Laufen, eine halbe Ewigkeit im IT-Business. Auch der alternative Weg über Kreditzusagen der Auftraggeber beschleunigt den Prozess nicht, da dann der Budgetprozess einfach bis zu 27 Male durchlaufen wird (1x für den Kanton, je 1x pro teilnehmende Gemeinde).

Schlussfolgerungen

Das Gesetz verfehlt die gesetzten Ziele. Eine Korrektur und Nachjustierung durch die zu erstellenden Reglemente und Strategiepapiere ist schwierig bis unmöglich. Ich werde das Gesetz also ablehnen und hoffe darauf, dass die Verantwortung klarer definiert wird.

(Die Punkte, die laut Abstimmungsmagazin verbessert werden sollten, könnten auch innerhalb der bestehenden Organisationsstruktur umgesetzt werden, wenn denn der politische Wille da wäre.)

Weiterführende Literatur

[Kapitel hinzugefügt 2022-03-05]

Quellen

Die Titelgrafik mit dem Organigramm ist dem Abstimmungsbüchlein entnommen, aktuell herunterladbar von der Abstimmungsseite des Kantons.


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