Handelsbilanzdefizite sind nicht böse: Volkswirtschaft entwirrt

Links Waren, rechts Geld. Dazwischen Pfeile, die den Austausch symbolisieren

In den letzten Tagen waren Handelsbilanzdefizite, produzierendes Gewerbe sowie der Dollar als Leitwährung wieder in den News, doch kaum jemand versteht die Zusammenhänge. Hier eine deutsche Kurzzusammenfassung der Essays dazu von Paul Krugman.

Der Wirtschaftsprofessor und Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugmann hat diese und weitere Punkte sowie ihre Zusammenhänge (oder eben der Mangel an Zusammenhang) in seinem lesenswerten Blog vor ein paar Monaten in vielen längeren Artikeln auf Englisch detailliert und trotzdem verständlich erklärt. Da die Detailtiefe auf Englisch trotzdem nicht für alle verständlich ist, hier seine wichtigsten Punkte zusammengefasst.

Für genauere Begründungen empfehle ich seine Artikel. (Die Zahlen 1️⃣–7️⃣ verlinken auf seinen jeweiligen Text, in dem es primär um dieses Thema geht.)

In den «Kommentar»-Unterkapiteln und den grünen Kästen verlasse ich jeweils Krugmans Informationen und bringe eigene Interpretationen oder Meinungen ein.

Was bedeutet ein Handelsbilanzdefizit?

Gehen wir da schrittweise vor:

Was ist die Handelsbilanz?

Die Handelsbilanz sagt aus, wie viele Güter zwischen Ländern gehandelt werden. Genauer ist es in der Buchhaltung das Konto, in dem Warenexporte gegen Warenimporte aufgewogen werden.

SollHaben
WarenexporteWarenimporte
Darstellung der Handelsbilanz in Kontoform. Nach Wikipedia.

Heute hat ein Handelsbilanzdefizit nur entfernt etwas mit schrumpfenden Edelmetallreserven oder dem Defizit aus einem Firmenbudget zu tun.

Was ist ein Handelsbilanzdefizit?

Ein Handelsbilanzdefizit (auch Aussenhandelsdefizit) aus Sicht eines Landes A gegenüber Land B herrscht dann, wenn der Wert der Importe (von B nach A) den Wert der Exporte (von A nach B) überschreitet. Wenn es mehr Exporte gibt, spricht man auch von einem Aussenhandelsüberschuss oder Handelsbilanzüberschuss.

Die Angst vor dem Handelsdefizit stammt aus dem 16. bis frühen 18. Jahrhundert (Merkantilismus), in dem vor allem Güter gegen Geld getauscht wurden. Da «Geld» damals Gold und Silber bedeutete, war die Angst, dass die landeseigenen Vorräte eben diese Edelmetalle ausgehen könnten.

Und schon 1752 hat David Hume geschrieben, dass dieses gar nicht schlimm sei, sondern sich langfristig wieder ausgleichen würde. Also vorerst mal kein Grund zur Panik. 1️⃣

Handelsbilanz im Merkantilismus

Als noch ausschliesslich mit Gütern – beispielsweise Gewürzen und Tulpenzwiebeln – gehandelt wurde, war die Sache für ein Land klar:

Verkaufte Waren + bezahltes Geld
=
ausgeführte Waren + erhaltenes Geld

Zahlungsbilanz heute

Was wahrscheinlich den meisten sofort aufgefallen ist, in der obigen Liste fehlen Dienstleistungen, die ja auch über Ländergrenzen hinweg gehandelt werden. Ein prominentes Beispiel sind Clouddienstleistungen (Speicher, Rechenleistung, Softwarelizenzen, …).

Es gibt allerdings einen weiteren wichtigen Punkt, der oft vergessen wird: Wertschriftenhandel. Es werden auch Firmenanteile oder Staatsanleihen gehandelt.

Krugman packt dabei Geld und mit diesen anderen Vermögenswerten in eine Kategorie. 1️⃣

Verkaufte Waren + verkaufte Dienstleistungen + verkaufte Vermögenswerte
=
gekaufte Waren + gekaufte Dienstleistungen + gekaufte Vermögenswerte

Auch Waren und Dienstleistungen werden bei Krugman zu «Gütern» zusammengelegt:

Verkaufte Güter + verkaufte Vermögenswerte
=
gekaufte Güter + gekaufte Vermögenswerte

Je nach den Bedürfnissen und Angeboten eines Landes werden nun die importierten Waren, Dienstleistungen und Vermögenswerte in unterschiedlichem Masse auf die exportierten Waren, Dienstleistungen und Vermögenswerte aufgeteilt.

Kommentar

Ein niedriger Anteil an verkauften Gütern (=«Handelsbilanzdefizit») kann einfach darin begründet sein, dass ein Land gleichzeitig auch unvergleichlich gute Dienstleistungen exportiert oder ausserordentlich attraktive Firmen hat, deren Anteile Personen aus dem Ausland kaufen wollen.

Im Falle der USA also beispielsweise Clouddienstleistungen und Aktien der grossen Tech-Firmen. So importieren sowohl die Schweiz als auch die EU deutlich mehr Dienstleistungen aus den USA als sie exportieren. Bei der Schweiz ist das grob ein Faktor zwei. Die vier grössten Dienstleistungsimportkategorien der Schweiz sind Lizenzen, Finanzen, Tourismus und IKT. Zu letzterem gehören auch die oben genannten Clouddienstleistungen. (Übrigens jeder Besuch des SECO-Services Trade Cockpits, von dem diese Daten stammen, führt zur Erhöhung der Cloudimporte, da dies ein Microsoft-PowerBI-Dashboard ist.)

Dienstleistungsbilanz Schweiz-USA. Klar erkennbar ist, dass in den letzten Jahren die Menge aus den USA in die Schweiz importierter Dienstleistungen rund doppelt so gross ist wie unser reziproker Export.
Screenshot aus dem Services Trade Cockpit des SECO, Datenquelle: SNB.

Ist der Dollar schuld?

Der generelle Konsens ist, dass der Dollar schon eine Rolle spielt, aber keine ursächliche. Krugman listet folgende Schritte: 1️⃣

  1. Ausländer wollen in den USA investieren
  2. Dazu müssen sie Dollar kaufen
  3. Diese Nachfrage erhöht seinen Kurs relativ zu anderen Währungen
  4. Dadurch wird Produktion in den USA im Vergleich zu nicht-US-Produktion teurer
  5. Resultat: Handelsdefizit\

Krugmans Erklärung ist natürlich viel ausführlicher. 1️⃣

Also eigentlich müsste Trump zur Verbesserung des Handelsdefizits das Übel an der Wurzel bekämpfen und Investitionen in den USA weniger attraktiv machen. (Ah, ok, das macht er ja gerade. Also alles gut. Oder so.)

Ist der Dollar als Leitwährung schuld?

Der Vorsitzende von Trumps Rat seiner Wirtschaftsberater, Stephen Miran, schrieb letztes Jahr in einer Analyse, dass der Dollar durch die dauernden Dollar-Anhäufungen fremder Länder in eine dauerhafte Überbewertung gezwungen würde. Paul Krugman bezweifelt, dass Trumps Entscheidungen auf Fakten basieren. Trotzdem nimmt sich Krugman die Mühe, Gegenargumente zu Mirans Aussagen auf den Tisch zu legen.

So war der US-Dollar seit den 1940ern die Leitwährung, aber bis in den späten 70ern erreichten die USA einen Handelsüberschuss, wie er mit Quellen dokumentiert. Neben anderen Punkten erwähnt Krugman, dass seit den 1960ern private Vermögenswerte in die USA geflossen seien. Diese seien aber oft in langfristigen Anlagen (z.B. Tech-Aktien) angelegt worden und nicht in kurzfristigen Anlagen oder eben physischen Gütern.

Krugman argumentiert auch, dass wenn man diese Kapitalflüsse eindämmen würde, da – zumindest bis vor Trump – die US-Wirtschaft als lukrative Investitionsmöglichkeit angesehen wurde. (Und ob es wirklich im US-Interessen sein kann, diese Investitionen zurückzufahren, ist mehr als fraglich.)

Viel breiter und tiefer und mit Grafiken unterlegt findet sich das aber im Original bei Krugman 2️⃣

Was bedeutet die Abnahme der industriell Beschäftigten?

Ein Argument von Trump ist, dass die Anzahl der Beschäftigten in der Industrie abgenommen hätten. Und dass irgendwie die Ausländer schuld seien.

Doch nicht alle Entwicklungen, die gleichzeitig ablaufen, haben auch dieselbe Ursache. Oder, wie sich das in Fachsprache nennt: «Korrelation ist nicht Kausalität», wie das auch Tyler Vigen anhand echter Statistiken illustrativ ad absurdum führt.

Denn Industriearbeit ist in allen «Industrieländern» am Abnehmen. In den letzten Jahrzehnten haben Jobs im Dienstleistungsgewerbe zugenommen und Fabrikjobs abgenommen. In Deutschland – dem klassischen Land von guter deutscher Wertarbeit in «Hardware» – sind die Beschäftigten in der Industrie in den letzten 50 Jahren von 40 auf unter 20 % gesunken. (In den USA von 25 % auf 8 %.)

Trotzdem hat Deutschland einen Handelsbilanzüberschuss, die USA ein Defizit. Das kann also nicht der Grund sein, wie Krugman schlussfolgert. 3️⃣

Können Zölle sie korrigieren?

Krugman rechnet vor, dass auch wenn man davon ausginge, dass das Handelsdefizit für den Rückgang der Anzahl Arbeiter in der industriellen Fertigung verantwortlich gemacht werden könnte, die komplette Elimination des Handelsdefizits nur 2½ der 17 Prozent Rückgang in der Beschäftigungsquote kompensieren könnte. Also etwa ⅐. 3️⃣

Damit ist die Antwort hier 2x Nein. (Erstens, weil sie nicht die Ursache sind; zweitens, selbst wenn sie es wären, könnte das nur einen Bruchteil kompensieren.)

Wer bezahlt die Zölle?

Grundsätzlich bezahlt der Importeur die Zölle. Dieser wiederum dürfte sie in den allermeisten Fällen an die Kunden weitergeben.

Klar, vielleicht werden einige der Herstellerfirmen Rabatte geben. Aber viele werden das nicht können.

Ein Inhaber einer kleinen Firma schrieb anlässlich der ersten Ankündigungswelle vor einigen Monaten,[finde den Link nicht mehr, sorry!] wie schwierig für ihn die Situation werden würde. Insbesondere als jemand, der seine (Halbfertig-)Produkte gerne legal importiert. Er beschrieb auch, dass es sich für Hersteller aus Ländern mit solchen Zusatzzöllen lohnen würde, die Exportartikel falsch zu deklarieren. Denn dem Absender in einem Drittland passiere kaum etwas. Wenn allerdings der Empfänger in den USA beim gleichen Spiel entdeckt werde, käme es diesen teuer zu stehen. Die Schlussfolgerung war, dass die Zölle vor allem die ehrlichen Importeure belasten würde.

Screenshot aus Wirtschaft vor Acht: Trumps Zollpolitik wird teuer, ARD, 2025-08-01, bei Minute 02:50. [Neu 2025-08-03]

Zusammenfassung

Paul Krugman hat einen Artikel unter dem Titel „Stop Looking for Methods in the Madness: There’s no plan, secret or otherwise, behind Trump’s tariffs.4️⃣ Der Titel alleine fasst die (Wirtschafts-)Politik der letzten Monate sehr gut zusammen. (Aber auch der Artikel selbst ist lesenswert.)

Und selbst wenn sein Vorgehen Methode haben sollte: Es ist im Merkantilismus des 16. Jahrhunderts verwurzelt, der mit der heutigen Weltwirtschaft wenig gemein hat.

Kommentar

Unabhängig davon sollten wir – wie jemand treffend verglich – aufhören, weiterhin mit Trump Schach spielen zu wollen, während dieser schon lange Völkerball spielt.

Es geht – wie Adrienne Fichter in einem anderen Zusammenhang zusammenfasst – bei der Trump’schen Politik um Macht, insbesondere Chauvinismus, Kolonialisierung sowie Macht über die Sprache und Information, also Zensur.

Das ist nicht mehr die Politik, die wir uns gewohnt sind. Klassische Diplomatie hilft in diesem Falle nicht mehr.

Quellen

Paul Krugman

  1. Paul Krugman: A Balance of Payments Primer, Part I (And why you shouldn’t panic over trade deficits), 2025-03-23 1️⃣
  2. Paul Krugman: A Balance of Payments Primer, Part II: The Dollar and All That (And what is the „Mar-a-Lago Accord“?), 2025-03-30 2️⃣
  3. Paul Krugman: A Note on Trade Deficits and Manufacturing (Some perspective on the eve of trade war), 2025-04-01 3️⃣
  4. Paul Krugman: Stop Looking for Methods in the Madness (There’s no plan, secret or otherwise, behind Trump’s tariffs), 2025-04-02 4️⃣
  5. Paul Krugman: Trump Goes Crazy on Trade (“Liberation Day” is even worse than expected), 2025-04-02
  6. Paul Krugman: Will Malignant Stupidity Kill the World Economy? (Trump’s tariffs are a disaster. His policy process is worse.), 2025-04-03 6️⃣
  7. Paul Krugman: How a Con Man President Is Destroying Confidence (Chaos and incompetence are bad. Who knew?), 2025-04-04 7️⃣

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